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Upton Sinclair - Jimmie Higgins (1919)
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l. Kapitel: Jimmie Higgins trifft den Kandidaten

1

„Jimmie", sagte Lizzie, „können wir nicht mal ins Kino gehn?"
Jimmie stellte die Untertasse mit heißem Kaffee, die er gerade zum Mund führen wollte, wieder hin und starrte seine Frau an. Er sagte nichts; in dreieinhalb Jahren Ehe hatte er gelernt, dass man nicht immer alles aussprechen muss, was einem in den Sinn kommt. Doch in Gedanken sann er über die Abgründe nach, die zwischen der männlichen und der weiblichen Seele liegen. Dass einer überhaupt wünschen konnte, sich einen Filmstar anzugucken, wie er an Fassaden hochklettert oder unter einem rasenden Expresszug hervor gezerrt wird - an diesem schicksalhaften Tag, diesem größten Wendepunkt der Geschichte!
„Du weißt doch, Lizzie", sagte er geduldig, „ich werde im Opernhaus gebraucht."
„Aber dafür bleibt dir doch noch der ganze Vormittag!" „Ja, schon; aber dauern wird es den ganzen Tag." Da schwieg Lizzie, denn auch sie hatte in dreieinhalb Jahren Ehe viel gelernt. Sie hatte gelernt, dass auf dieser Welt die Frauen von Arbeitern selten alles bekommen, was sie gern haben möchten; und auch, dass einen Propagandisten zum Mann zu haben noch lange nicht das Schlechteste ist, was einem widerfahren kann. Schließlich hätte er ja auch seine Zeit und sein Geld fürs Trinken oder für andere Frauen verschwenden können oder hätte am Husten zugrunde gehen können wie der Mann von nebenan. Wenn man am Sonntagnachmittag auf ein bisschen Vergnügen verzichten musste - nun, dann seufzte man wohl, aber nicht zu laut.
Jimmie begann aufzuzählen, was an diesem Sonntagvormittag und -nachmittag noch alles zu erledigen war. Lizzie
schien es das gleiche zu sein, was immer vor Versammlungen zu erledigen war. Allerdings war diese Versammlung größer - sie fand in der Oper statt, und alle Geschäfte hatten die Ankündigung im Schaufenster ausgehängt mit einem Bild des Kandidaten, der bei dieser Veranstaltung reden würde. Doch es war schwer für Lizzie, einzusehen, dass zwischen diesem und den anderen Kandidaten ein Unterschied bestehen sollte - bisher war noch keiner von ihnen gewählt worden! Lizzie wäre wirklich viel lieber zu Hause geblieben, denn sie verstand das Englische nicht sehr gut, wenn es von der Tribüne herunter dröhnte und wenn so viele lange Wörter darin vorkamen; aber sie wusste, dass Jimmie versuchte, ihr Bildung beizubringen, und da sie eine; Frau war, hatte sie zumindest Bildung genug, um zu wissen, auf welche Weise man seinen Mann festhält. Jimmie hatte gerade eine neue Lösung für das Problem gefunden, wie man die Kinder zu den Versammlungen mitnehmen konnte, und Lizzie wusste, dass er ungeheuer stolz auf seinen Einfall war. Solange erst ein Kind dagewesen war, hatte Jimmie es getragen. Als das zweite dazugekommen war, hatte Lizzie mitgeholfen. Doch jetzt waren es drei, mit einem Gesamtgewicht von über sechzig Pfund, und die Straßenbahn war ziemlich weit entfernt; außerdem fühlte sich Jimmie in seinem Klassenbewusstsein getroffen, wenn er einem räuberischen Unternehmen zwanzig Cent zahlen sollte. Sie hatten es damit probiert, einer Nachbarin etwas dafür zu zahlen, dass sie bei den Kindern blieb; aber die erste, mit der sie es versuchten, war ein junges Ding, das es satt bekam und wegging und die Kleinen sich die Kehle aus dem Hals schreien ließ, und die zweite war eine polnische Dame, die sie bei ihrer Rückkehr sinnlos betrunken vorfanden.
Aber Jimmie war entschlossen, zu den Versammlungen zu gehen, und ebenso entschlossen, Lizzie mitzunehmen. Es sei einer der Flüche des Systems, sagte er, dass es den Frauen aus der Arbeiterklasse jede Möglichkeit nehme, sich weiterzubilden. Daher hatte er dem „Industrieladen", einem Trödelladen, den die Heilsarmee unterhielt, einen Besuch abgestattet und dort für fünfzehn Cent einen wunderbaren breiten Zwillingskinderwagen erstanden, der ganz und gar mit glänzendem schwarzem Lack überzogen war.
Auf der einen Seite war er entzwei, doch Jimmie hatte das mit Draht in Ordnung gebracht und durch sorgfältiges Packen gezeigt, dass es möglich war, die Kinder darin unterzubringen - Jimmie und Pete nebeneinander und das Baby am Fußende.
Die einzige Schwierigkeit bestand darin, dass Jimmie zwei die Füße nicht still halten konnte. Er konnte seine Glieder überhaupt nicht still halten, der kleine Tausendsassa. Hier war er nun, flitzte in der Küche herum und haschte nach dem immer wieder entschlüpfenden Schwanz des letzten Familienzuwachses, eines halbverhungerten Köters, der mit Jimmie von der Straße hereingekommen und inzwischen schon bis zu einem Anflug von Hundeähnlichkeit aufgepäppelt worden war. An diesem Prachtstück baumelte hinten in aufreizender Manier ein nackter, runder Schwanz; Jimmie zwei, immer im Glauben, er könnte ihn fangen, trabte Runde auf Runde um den Küchentisch, vor sich greifend und lachend, so dass er sich nach einiger Zeit vor purer Erschöpfung setzen musste.
Jimmie eins sah ihm hingerissen zu. War das ein Schlingel! Hatte man schon mal ein Kerlchen von zweieinviertel Jahren gesehen, das so sicher auf den Beinen war wie das hier? Oder lauter brüllen konnte? Dieses, weil Jimmie zwei eine Abkürzung unter dem Küchenherd hindurch versucht hatte, was ihm jedoch misslungen war. Lizzie stürzte sich über ihn, drückte ihn an ihren üppigen Busen und überschüttete ihn mit einem Schwall von Trostworten auf tschechisch. Da Jimmie eins kein Wort davon verstand, nutzte er die allgemeine Verwirrung aus, um Mantel und Mütze zu holen und voll frischer Entschlossenheit zum Opernhaus zu eilen. Denn man muss wissen, sooft ein Sozialist seinen Sohn ansieht oder auch nur an ihn denkt, umso dringlicher erscheint ihm seine Tätigkeit als Propagandist. Möge die Welt bald verändert werden, damit den kleinen Bürschchen die Leiden und Demütigungen erspart bleiben, die den Eltern zuteil geworden sind!

2

„Genosse Higgins, hast du mal einen Hammer?" Der das fragte, war Genosse Schneider, und er machte sich nicht einmal die Mühe, von der Leiter herunterzusteigen, wo er eine Wimpelgirlande hielt, sondern er wartete gemütlich, dass ihm der Hammer gebracht würde. Und kaum hatte der Bringer die Leiter erklommen, als eine Frauenstimme von der Bühne her rief: „Genosse Higgins, ist das Ypselbanner (Anm.: „Ypsel" ist entstanden aus YPSL, der Abkürzung für Young People's Socialist League (= Jungsozialistenverband).) inzwischen gekommen?" Und hinten vom Parkett her drang die volltönende Stimme des dicken Genossen Rapinsky: „Genosse Higgins, bringst du mal bitte einen Tisch für die Literatur her?" Und von der Loge im zweiten Rang rief Genossin Mary Allen: „Da du doch gerade unten bist, Genosse Higgins: Würdest du wohl telefonieren und dafür sorgen, dass das Empfangskomitee die Änderung der Zugankunft erfährt?"
So ging es in einem fort, und Jimmie rannte schwitzend und mit rotem Gesicht in dem großen Saal umher; denn es war Hochsommer, und kein Luftzug drang durch die Fenster der Leesviller Oper, und wenn man hoch oben an der Wand stand, um die Girlanden mit den roten Wimpeln zu befestigen, fühlte man sich wie im Backofen. Doch die Girlanden mussten nun einmal befestigt werden, ebenso wie die große rote Fahne über der Bühne und das Banner des Karl-Marx-Vereins und das Banner der „Ypsels", das heißt des Jungsozialistenverbandes von Leesville, und das Banner der Maschinenarbeitergewerkschaft, Ortsgruppe 4717, und der Zimmermannsgewerkschaft, Bezirk 529, und des Arbeiterkonsumvereins. Und weil Genosse Higgins niemandem das Recht absprach, ihm Befehle zu erteilen, sondern immer alles freundlich lächelnd erledigte, hatten sich die Leute angewöhnt, in ihm genau den richtigen Mann für langweilige und unangenehme Aufgaben zu sehen. Im Augenblick hatte er noch mehr als sonst um die Ohren, weil die Mitglieder dieser sonst recht gut funktionierenden Ortsgruppe halb von Sinnen waren, wie ein Ameisenhaufen, den man mit einer Schaufel aufgescheucht hat. Auch die Zuverlässigsten zeigten einen Hang, zu vergessen, was
sie gerade vorhatten, und standen in Gruppen herum, um die Nachrichten zu erörtern, die über den Draht gekommen und in der Morgenzeitung veröffentlicht worden waren. Jimmie Higgins hätte gern gehört, was die anderen zu sagen wussten; aber irgend jemand musste ja bei der Arbeit aushalten, denn die Ortsgruppe stand mit fast dreihundert Dollar in der Kreide wegen des heutigen Abends, der deshalb ein Erfolg werden musste, selbst wenn die halbe zivilisierte Welt plötzlich aus den Fugen ging. So kletterte Jimmie weiter auf Trittleitern und machte Wimpel fest. Als es Zeit zum Mittagessen wurde und die Mitglieder des Ausschmückungskomitees fortgingen, fiel es plötzlich einem von ihnen ein, dass der Rollkutscher, der die Literatur bringen sollte, kommen könnte, wenn niemand da war, um sie entgegenzunehmen. So durfte denn Genosse Higgins während der Mittagspause dableiben. Es gab eine plausible Begründung - er gehörte dem Literaturkomitee an; überhaupt gehörte er jedem Komitee an, das mit harter Arbeit verbunden war - dem Komitee, das die Flugblätter zur Ankündigung der Versammlung zu verteilen hatte, dem Komitee, das die Arbeitergewerkschaften aufsuchen und sie bitten sollte, Eintrittskarten zu verkaufen, dem Komitee, das auf der Versammlung Geld sammeln sollte. Dagegen gehörte er den Komitees, die mit Ehre und Erbauung verbunden waren, wie zum Beispiel dem Komitee, das den Kandidaten am Bahnhof empfangen und zur Oper geleiten sollte, nicht an. Aber Jimmie wäre auch nie auf den Gedanken gekommen, dass er in solch einem Komitee etwas zu suchen haben könnte; denn er war doch bloß ein ungebildeter Mensch, ein Maschinenarbeiter, zu klein geraten und unterernährt, mit schlechten Zähnen und rauen Händen und ohne Gaben oder Fähigkeiten, die ihn hätten anziehend machen können; während dem Empfangskomitee ein Rechtsanwalt und ein wohlhabender Arzt und der Sekretär der Teppichwebergewerkschaft angehörten: alles Leute, die gute Kleidung trugen, Bildung besaßen und wussten, wie man mit einem Kandidaten reden muss. Jimmie wartete also, und als der Rollkutscher kam, packte et die Bücher und Broschüren aus, baute sie in ordentlichen Stapeln auf den Büchertischen auf und hängte ein paar von den zugkräftigsten hinter den Tischen an die Wand. Natürlich war Genossin Mabel Smith, die Vorsitzende des Literaturkomitees, darüber hoch erfreut, als sie vom Mittagessen zurückkam. Dann erschienen die Mitglieder des Deutschen Liederkranzes, um ihr geplantes Programm zu proben, und Genosse Higgins hätte sich am liebsten hingesetzt und zugehört, aber irgend jemand stellte fest, dass noch Leim gebraucht wurde, und so jagte er los, um einen Drugstore zu finden, der am Sonntag geöffnet war. Später wurde es ruhiger, und Jimmie merkte jetzt, dass er Hunger hatte. Er kramte seine Taschen aus und fand darin siebzehn Cent. Bis nach Hause war es weit; deshalb wollte er um die Ecke bei „Tom" eine Tasse Kaffee und ein paar Krapfen zu sich nehmen. Doch gewissenhaft fragte er erst, ob noch jemand etwas brauche, worauf Genossin Mabel Smith ihn bat, sich sehr zu beeilen, damit er ihr helfen könne, die Flugblätter auf den Plätzen zu verteilen, und auch Genosse Meissner würde Hilfe brauchen beim Aufstellen der Stühle auf der Bühne.

3

Wenn man in Leesville vom Opernhaus aus nach Westen in die Hauptstraße einbog, kam man zuerst am „Cafe Heinz" vorbei, einem eleganten Speiserestaurant, das nichts für Jimmie war; dann am „Bijou-Nickelodeon" mit einem elektrischen Klavier im Eingang und am „Preiswerten Schuhladen", der ständig Sonderverkäufe auf Grund von Konkursen, Bränden oder Umzügen anbot; danach an Lipskys „Filmpalast" mit einem braun-gelben Cowboy, der mit einem rot-gelben Mädchen auf den Armen davongaloppierte; dann an „Harrods Feinkostladen" an der Ecke. Und überall war im Fenster ein Aushang mit dem Bild des Kandidaten und der Ankündigung, dass er am Sonntagabend um acht Uhr in Leesville in der Oper über das Thema „Der Krieg - Ursachen und Abhilfe" reden würde. Jimmie Higgins sah die Aushänge, und ein würdevoller, doch freudiger Stolz erfüllte seine Brust; denn sie alle prangten dort, weil er, Jimmie, mit den Besitzern gesprochen und ihre mehr oder minder widerwillige Zustimmung erhalten hatte. Jimmie wusste, dass sich an diesem Sonntag überall in
Deutschland, Österreich, Belgien, Frankreich und England die Arbeiter in den Städten zu Millionen und aber Millionen versammelten, um dagegen zu protestieren, dass der rote Schrecken des Krieges über ihren Häuptern losgelassen wurde. Und auch in Amerika - ein Ruf aus der Neuen Welt würde hinüberschallen zur Alten, dass die Arbeiter sich erheben und ihren Schwur wahr machen sollten, dieses Verbrechen gegen die Menschheit zu verhindern. Er, Jimmie Higgins, besaß keine Stimme, die irgend jemand beachtet hätte; doch er hatte mitgeholfen, die Leute in seiner Stadt zusammenzubringen, damit sie einem Mann zuhörten, der eine Stimme hatte und der den Werktätigen die Bedeutung dieser Weltkrise klarmachen würde.
Es war der Präsidentschaftskandidat der Partei. Zurzeit standen nur Wahlen zum Kongress bevor, aber dieser Mann hatte schon so oft für die Präsidentschaft kandidiert, dass jeder ihn in dieser Rolle sah. Man konnte sagen, dass bei ihm jede Wahlkampagne vier Jahre dauerte; er bereiste das Land von einem Ende zum anderen und zählte die Hörer seiner brennenden, bitteren Botschaft nach Millionen. Der Zufall
hatte es gefügt, dass der Tag, den die Kriegsherren und Geldleute Europas dafür ausgewählt hatten, ihre Sklaven zur Schlachtbank zu treiben, auch der Tag war, an dem der Kandidat laut Plan im Opernhaus von Leesville sprechen sollte. Kein Wunder, dass die Sozialisten der kleinen binnenländischen Stadt aufgeregt waren! Jimmie Higgins betrat „Toms Imbissstube", grüßte den Besitzer, setzte sich auf einen Hocker an der Theke, bestellte Kaffee und bediente sich mit Krapfen - man hätte sie „Rettungsringe" nennen sollen, so voller Luft waren sie. Er stopfte sich den Mund voll und blickte dabei auf, um sich zu vergewissern, dass Tom den Aushang, der die Versammlung ankündigte, nicht weggenommen hatte; Tom war nämlich Katholik, und einer der Gründe, weswegen Jimmie hierherging, war, dass er mit ihm und seinen Stammkunden über Ausbeutung unverdienten Wertzuwachs und Mehrwert diskutieren wollte.
Doch ehe es überhaupt zu einem Gespräch kommen konnte, warf Jimmie zufällig einen Blick in die Runde. Im hinteren Teil der Imbissstube standen vier kleine Tische mit Wachstuchdecken, wo man einen Schnellimbiss einnehmen konnte, und an einem dieser Tische saß ein Mann. Jimmie warf einen flüchtigen Blick auf ihn und fuhr derart zusammen, dass er beinahe seinen Kaffee verschüttet hätte. Unmöglich - und doch - natürlich - wer konnte dieses Gesicht verkennen? Das Gesicht eines mittelalterlichen Kirchenmannes, hager, asketisch, doch mit einem neuzeitlichen Zug von Freundlichkeit, und darüber eine Glatze wie ein Mond, der über der Prärie aufsteigt. Jimmie fuhr zusammen und starrte dann das Bild des Kandidaten an, das über dem Regal mit Backwaren thronte. Er wandte sich wieder zu dem Mann um, und der Mann blickte auf, und seine Augen begegneten Jimmies Augen, in denen Erstaunen und Ehrfurcht lagen. Die ganze Geschichte stand ihm im Gesicht geschrieben - unmissverständlich, besonders für einen Kandidaten, der im Lande herumreiste und Reden hielt und dabei alle Augenblicke erkannt wurde an seinen Fotos, die ihm vorausgeeilt waren. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht, und Jimmie setzte die Kaffeetasse aus der einen zitternden Hand, legte den Krapfen aus der anderen und erhob sich von seinem Hocker.

4

Jimmie hätte nicht gewagt, sich dem anderen zu nähern, wenn nicht dessen Lächeln gewesen wäre - ein Lächeln, das zwar müde, aber doch offen und einladend war. „Grüß dich, Genosse!" sagte der Mann. Er hielt ihm die Hand hin, und in seinem ganzen Leben war Jimmie noch nie dem Himmelreich so nahe gewesen wie im Augenblick dieses Händedrucks.
Als ihm die Stimme wieder gehorchte, brachte er nur heraus: „D-du solltest doch erst fünf Uhr zweiundvierzig ankommen!"
Als ob der Kandidat das nicht selbst gewusst hätte! Er erklärte, dass er die Nacht zuvor nicht zum Schlafen gekommen und darum eher gefahren sei, um wenigstens tagsüber noch ein Nickerchen zu machen.
„Ach so", sagte Jimmie und dann: „Ich hab dich an deinem Bild erkannt."
„Ja?" sagte der andere geduldig.
Und Jimmie kramte in seinem verstörten Kopf nach etwas, was sich wirklich zu sagen lohnte. „Du willst sicher das Komitee sprechen?"
„Nein", sagte der andere, „erst will ich mal hiermit fertig sein." Und er nahm einen Schluck Milch aus seinem Glas und biss in sein Sandwich und kaute. Jimmie war derart aus der Fassung geraten, dass er wie ein Blödian dasaß und nicht wusste, was er sagen sollte, während der Mann seine Mahlzeit beendete. Als er fertig war, sagte Jimmie noch einmal - zu mehr war er nicht fähig: „Sicher willst du jetzt das Komitee sprechen?" „Nein", lautete die Antwort, „ich will nur hier sitzen - und vielleicht mit dir reden, Genosse - Genosse ...?" „Higgins", sagte Jimmie.
„Genosse Higgins - das heißt, wenn du Zeit hast."
„Aber sicher!" rief Jimmie. „Ich hab massenhaft Zeit. Aber
das Komitee ..."
„Lass nur das Komitee, Genosse. Weißt du, wie viel Komitees ich auf dieser Reise kennengelernt habe?" Jimmie wusste es nicht und getraute sich auch nicht zu fragen.
„Wahrscheinlich hast du nie darüber nachgedacht, was es heißt, Kandidat zu sein", fuhr der andere fort. „Man reist von Ort zu Ort und hält jeden Abend dieselbe Rede, und es kommt einem so vor, als ob man jede Nacht im selben Hotel schliefe, und auch fast so, als ob man mit demselben Komitee zusammenträfe. Aber man darf nicht vergessen, dass die Rede, die man hält, für jeden Zuhörerkreis neu ist, und man muss sie so halten, als hielte man sie das erste Mal; außerdem darf man nicht vergessen, dass das Komitee aus treuen Genossen besteht, die für die gute Sache alles geben; also sagt man ihnen nicht, dass das eine Komitee genau wie das andere ist oder dass man todmüde ist oder vielleicht Kopfschmerzen hat.."
Jimmie saß da und staunte in ehrfurchtsvollem Schweigen. Da er kein belesener Mann war, hatte er nie etwas gehört von dem „Haupt, das eine Krone drückt". Dies war sein erster Blick hinter die Kulissen der Berühmtheit. Der Kandidat fuhr fort: „Und außerdem, Genosse, sind da die Nachrichten aus Europa. Ich brauche ein bisschen Zeit. Ich muss das alles erst verarbeiten!"
Seine Stimme klang jetzt düster, und Jimmie, der ihn anstarrte, kam es vor, als lägen in den müden Augen alle Sorgen der Welt. „Na, dann geh ich wohl besser", sagte er. „Nein, nein", entgegnete der andere, schnell wieder gefasst Er blickte auf und bemerkte, dass Jimmie sein Essen stehen gelassen hatte. „Bring doch dein Essen her", sagte er; worauf Jimmie seine Tasse und seinen Teller holte und seine restlichen Krapfen unter den Augen des Kandidaten verschlang.
„Ich dürfte eigentlich gar nicht reden", sagte dieser. „Du merkst ja, wie heiser ich bin. Aber rede du. Erzähl mir von der Ortsgruppe und wie die Dinge hier so laufen." Jimmie raffte allen Mut zusammen. Es war das einzige Thema, über das er wirklich reden konnte, das einzige, von dem ihm Herz und Seele voll waren. Leesville war eine typische kleine Industriestadt, mit einer Flaschenfabrik, einer Brauerei, einer Teppichweberei und den großen Empire Machine Shops, in denen Jimmie selbst dreiundsechzig Stunden jeder Woche seines Lebens zubrachte. Die Arbeiter waren natürlich noch nicht wach geworden; aber man konnte nicht klagen, die Bewegung wuchs an. Die Ortsgruppe zählte stolze hundertzwanzig Mitglieder, wenn natürlich auch nur an die dreißig von ihnen aktiv mitarbeiteten. Das sei überall so, warf der Kandidat ein - es waren immer nur wenige, die das Opfer brachten und die Sache am Leben erhielten.
Dann erzählte Jimmie von der Versammlung des heutigen Abends, von den Vorbereitungen, die sie getroffen hatten, und den Schwierigkeiten, die sie gehabt hatten. Die Polizei hatte plötzlich beschlossen, das gesetzliche Verbot von Postwurfsendungen durchzusetzen, obwohl sie dem „Kaufhof" von Isaac diese Informationsmethode gestattet hatte. Der Leesviller „Herald" und der „Abendkurier" stimmten der Polizeiaktion begeistert zu. Wenn man nämlich keine Postwurfsendungen in Umlauf bringen durfte, musste man ja offensichtlich in diesen Zeitungen inserieren. Der Kandidat lächelte - er kannte die amerikanischen Polizeibeamten, und er kannte auch den amerikanischen Journalismus.
Jimmie hatte ein paar Tage Feierschichten machen müssen im Werk und erzählte, wie gut er diese Zeit genutzt hatte,
indem er in den Geschäften Aushänge über die Versammlung hatte anbringen lassen. In einem Immobilienbüro gerade über der Straße war ein alter Schotte. „Verschwinde!" hatte der gesagt. „Da hielt ich es für besser zu verschwinden!" sagte Jimmie. Und dann hatte er sein Herz in beide Hände genommen und war in die First National Bank gegangen. Dort war gerade ein Herr über den Flur gekommen, und Jimmie war an ihn herangetreten und hatte ihm ein Plakat mit dem Bild des Kandidaten hingehalten. „Würden Sie so gut sein und das ins Fenster stellen?" hatte er gefragt, und der andere hatte es sich gelassen angesehen. Dann hatte er gelächelt - er war offenbar ein anständiger Kerl. „Ich glaube nicht, dass meine Kunden Ihr Unternehmen fördern würden", hatte er gesagt; doch Jimmie hatte ihn angehauen, ob er nicht Eintrittskarten nehmen und sich über den Sozialismus informieren wolle - und es war kaum zu glauben, er hatte doch tatsächlich einen Dollar herausgerückt! „Hinterher erfuhr ich dann, dass es Ashton Chalmers gewesen war, der Präsident der Bank!" sagte Jimmie. „Da hätt ich aber einen ganz schönen Schreck gekriegt, wenn ich das gewusst hätte."
Er hatte nicht vorgehabt, über sich zu reden; er wollte nur einen übermüdeten Kandidaten unterhalten, wollte verhindern, dass er ins Grübeln geriet über eine Welt, die in den Krieg zog. Aber der Kandidat merkte beim Zuhören, dass sich ihm Tränen in die Augen stehlen wollten. Er betrachtete die Gestalt vor sich - ein gebeugter, unterernährter kleiner Mann, dem die eine Schulter tiefer hing als die andere, der den struppigen braunen Schnurrbart voll Kaffeespuren hatte, der schwarze Zahnstümpfe und abgearbeitete Hände hatte, in die Schmutz und Schmieröl so tief eingedrungen waren, dass Waschen die reinste Zeitverschwendung gewesen wäre. Seine Kleidung war abgetragen und saß schlecht, sein Zelluloidkragen war gebrochen und sein Schlips fast ein Fetzen. Nach einem solchen Mann hätte sich niemand auf der Straße umgedreht - und doch sah der Kandidat in ihm einen von jenen unbekannten Helden, die eine Bewegung ausmachen, die die Welt verändern soll.

5

„Genosse Higgins", sagte der Kandidat nach einem Weilchen, „wir beide sollten einfach ausreißen." Jimmie guckte verblüfft. „Was?"
„Ich meine: vor dem Komitee, vor der Versammlung, einfach vor allem." Dann, als er die Bestürzung auf dem Gesicht des anderen sah: „Ich meine, wir sollten einen Spaziergang raus aufs Land machen." „Ach so!" sagte Jimmie.
„Ich sehe das Land zwar durch die Abteilfenster der Eisenbahn, aber ich komme monatelang nicht mit ihm in Berührung. Dabei bin ich auf dem Lande aufgewachsen. Da auch?"
„Ich bin hier und da aufgewachsen", sagte der kleine Maschinenarbeiter.
Sie standen auf und zahlten jeder seine zehn Cent an den Wirt der Imbissstube. Jimmie konnte der Versuchung nicht widerstehen, seinen Helden vorzustellen und einem frommen Katholiken zu zeigen, dass ein sozialistischer Kandidat weder Hufe noch Hörner hat. Der Kandidat war es gewohnt, zu diesem Zweck vorgestellt zu werden, und fand gewisse spontane, herzliche Worte, die er schon mindestens zehntausendmal vorher gesagt hatte, mit dem Ergebnis, dass der fromme Katholik versprach, am Abend zu der Versammlung zu kommen.
Sie traten hinaus, und weil auf der Hauptstraße vielleicht irgendein Komiteemitglied vorbeikommen konnte, führte Jimmie seinen Helden durch eine schmale Gasse in eine Nebenstraße. Sie gingen an der Glasfabrik vorbei, die für den Nichteingeweihten nur ein langer Bretterzaun war, überquerten die Schienenstränge der Atlantic-Western-Eisenbahn und kamen an der Teppichweberei vorbei, einem riesigen vierstöckigen Ziegelkasten. Danach lichteten sich die Reihen von Bretterbuden, es kamen freie Parzellen und Aschehaufen und schließlich Farmen. Des Kandidaten Beine waren lang und Jimmies leider kurz, und so musste er fast rennen. Die Sonne brannte auf sie nieder, und Schweißtropfen von der Glatze des Kandidaten stahlen sich unter dem Band seines Strohhuts hervor und rannen in seinen aufweichenden Kragen; darum zog er
seine Jacke aus, hängte sie sich über den Arm und schritt weiter aus, schneller denn je. Jimmie hetzte neben ihm her und scheute sich, etwas zu sagen, denn er ahnte, dass der
Kandidat über die Weltkatastrophe nachgrübelte, über die Millionen junger Männer, die zur Schlachtbank marschierten. Auf den Plakaten, die Jimmie in Leesville verteilt hatte, standen zwei Zeilen über den Kandidaten, geschrieben von Amerikas Lieblingsdichter:
Ein wärmres Herze findst du nicht, Und suchst du bis zum Weltgericht.
So gingen sie vielleicht eine Stunde und waren mittlerweile wirklich auf dem Lande. Sie kamen zu einer Brücke über den Lee, und dort blieb der Kandidat plötzlich stehen, blickte auf das Wasser, das unter ihm dahinglitt, und auf die Landschaft, durch die es sich schlängelte, eine Allee grüner Bäume mit Strecken von Weideland und grasenden Kühen. „Das sieht hübsch aus", sagte er. „Gehn wir doch mal hinunter." So kletterten sie über einen Zaun und wanderten eine Weile am Wasser entlang, bis eine Flusswindung sie
außer Sichtweite der Straße führte. Dort setzten sie sich auf eine Uferböschung, wischten sich den Schweiß von Stirn und Nacken und blickten in die sich kräuselnde Strömung. Man konnte das Wasser nicht gerade kristallklar nennen, denn wenn an einem Fluss so ungefähr alle zehn Meilen eine Stadt liegt mit Fabriken, die alle möglichen Chemikalien in ihn leiten, dann wird die Arbeit zu viel für die Erneuerungskräfte von Mutter Natur. Aber das müsste schon ein sehr schmutziger Strom sein, der im Hochsommer nach einem Spaziergang von vier Meilen nicht einladend aussehen sollte. So wandte sich der Kandidat plötzlich mit spitzbübischer Miene an Jimmie: „Genosse Higgins, hast du schon mal in einem Wasserloch gebadet?" „Klar hab ich das!" sagte Jimmie. „Wo denn?"
„Überall. Ich war zehn Jahre lang immer mal wieder auf der Walze - bis ich geheiratet habe."
„Na denn", sagte der Kandidat, immer noch lächelnd, „was meinst du?"
„Was ich meine? Klar, meine ich!" erwiderte Jimmie.
Er war fast außer sich vor Ehrfurcht über diesen unglaublichen Glückszufall, diese echte Kameradschaft mit dem Helden seiner Träume. Für Jimmie war dieser Mann eine körperlose Intelligenz gewesen, ein Spender proletarischer Ideen, ein übernatürliches Wesen, das im Lande herumzog, auf Tribünen stand und die Herzen der Massen mitriss. Es war Jimmie niemals der Gedanke gekommen, dass er einen nackten Körper haben könnte, dass er Freude daran haben könnte, im kalten Wasser herumzuplanschen wie ein Junge, der die Schule schwänzt. Wie es heißt, erzeugt Vertraulichkeit Geringschätzung, bei Jimmie aber erzeugte sie Begeisterung.

6

Etwas langsamer als zuvor gingen sie wieder heimwärts. Der Kandidat fragte Jimmie nach seinem Leben, und Jimmie erzählte die Geschichte eines Sozialisten - nicht die eines der führenden Köpfe, eines „Intellektuellen", sondern die eines Sozialisten aus „Reih und Glied". Jimmies Vater war ein erwerbsloser Arbeiter, der seine Familie verlassen hatte, ehe noch Jimmie sich dazugesellte; Jimmies Mutter war drei Jahre später gestorben, so dass er sich weder an sie erinnern noch sich auf ein Wort der fremden Sprache besinnen konnte, die er zu Hause gesprochen hatte, noch auch nur wusste, welche Sprache es gewesen war. Die Stadt hatte ihn in ihre Obhut genommen und zu einer Negerin in Pflege gegeben, die acht elende Kümmerlinge zu versorgen hatte; sie fütterte sie mit Haferschleim und Wasser und gab ihnen im Winter nicht einmal eine Bettdecke. Man sollte es nicht für möglich halten . . . „Ich kenne Amerika", warf der Kandidat ein. Jimmie fuhr fort. Mit neun war er zu einem Sägewerker gegeben worden, der ihn täglich sechzehn Stunden arbeiten ließ und ihn obendrein schlug; darum war Jimmie durchgebrannt und hatte zehn Jahre lang das Leben eines verwahrlosten Kindes in den Städten und das eines Landstreichers auf der Wanderschaft geführt. Bei der Aushilfe in einer Garage hatte er ein bisschen was über Maschinen aufgeschnappt und dann während einer Hochkonjunktur Arbeit bei den Empire Machine Shops gefunden. In Leesville war er geblieben, weil er geheiratet hatte; seine Frau hätte er in einem Bordell kennengelernt; sie hatte das Leben dort aufgeben wollen, und sie hatten es miteinander versucht.
„Ich erzähle das nicht jedem", sagte Jimmie. „Weißt du -man würde es vielleicht nicht verstehen. Aber du kannst es ruhig wissen."
„Danke", erwiderte der Kandidat und legte seine Hand auf Jimmies Schulter. „Erzähl mir, wie du Sozialist geworden bist."
Da war nichts Besonderes dabei, lautete die Antwort. Es war da einer im Werk gewesen, der hatte immer „das Maul aufgerissen"; Jimmie hatte über ihn gelacht - denn sein Leben hatte ihn misstrauisch gegen alle werden lassen, und wenn einer in Politik machen wollte, dann hatte der sich nur wieder einen Dreh ausgedacht, damit er einen weißen Kragen tragen und auf Kosten der Arbeiter leben konnte. Doch dieser Kerl hatte nicht lockergelassen, und einmal hatte Jimmie für mehrere Monate Feierschichten einlegen müssen, und die Familie war fast verhungert, und da hatte er Zeit gehabt zum Nachdenken und auch die Lust dazu. Der Kerl war mit ein paar Broschüren vorbeigekommen, und Jimmie hatte sie gelesen, und es hatte ihm gedämmert, dass es hier eine Bewegung seiner Arbeitskameraden gab, die ihren Nöten ein Ende machen konnte.
„Wie lange ist das her?" fragte der Kandidat, und Jimmie antwortete: drei Jahre. „Und deine Begeisterung hat sich noch immer nicht gelegt?" Dies mit einer Spannung, die Jimmie überraschte. Nein, antwortete er, so einer wäre er nicht. Mochte kommen, was wollte, er würde weiter sein Teil dazu beitragen, die Arbeiter zu befreien. Vielleicht würde er selbst den neuen Tag nicht mehr erleben, wohl aber seine Kinder, und der Mensch arbeitete nun mal wie der Teufel, um seine Kinder zu retten. Sie kamen wieder in die Stadt, und der Kandidat drückte Jimmies Arm. „Genosse", sagte er, „ich möchte dir sagen, wie gut mir dieser kleine Ausflug getan hat. Ich schulde dir viel Dank." „Mir?" rief Jimmie.
„Du hast mir neue Hoffnung und neuen Mut gegeben, und
das zu einem Zeitpunkt, als ich mich geschlagen fühlte. traf heute Morgen in der Stadt ein und war nicht zum Schlafen gekommen und versuchte, das im Hotel nachzuholen, konnte es aber nicht, wegen des Entsetzlichen, was da jetzt vor sich geht. Ich schrieb ein Dutzend Telegramme, schickte sie ab und hatte Angst, ins Hotelzimmer zurückzukehren, weil ich wusste, dass ich doch nur den ganzen Nachmittag wach liegen würde. Aber jetzt - jetzt weiß ich wieder, dass unsere Bewegung ihre Wurzeln in den Herzen der Menschen hat!"
Jimmie zitterte. Doch er konnte nichts weiter herausbringen als: „Ich wollte, ich könnte jeden Sonntag so was machen."
„Ich auch", sagte der Kandidat.

7

Sie gingen die Hauptstraße hinunter und sahen weiter vorn einen Menschenauflauf vom Bürgersteig bis über die Bordschwelle hinaus. „Was ist denn das?" fragte der Kandidat, und Jimmie antwortete, dort sei das Büro des „Herald". Es mussten Meldungen eingetroffen sein. Der andere beschleunigte seinen Gang, und Jimmie, der sich mit langen Schritten neben ihm hielt, verstummte wieder, weil er wusste, dass nun erneut die gigantische Last und Qual der Welt die Schultern seines Helden drückte. Sie kamen an den Rand der Menschenmenge und sahen vor dem Zeitungsbüro eine Meldung angeschlagen. Aber sie standen zu weit weg, als dass sie sie hätten lesen können. „Was gibt's?" fragten sie.
„Da steht, die Deutschen wollen in Belgien einmarschieren. Und sie haben eine Menge Sozialisten in Deutschland erschossen."
„Was?" Und die Hand des Kandidaten packte Jimmies Arm.
„So steht es jedenfalls da."
„Mein Gott!" rief der Mann. Er begann sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, mit Jimmie in seinem Kielwasser. Sie drangen bis zu dem Bulletin vor und standen davor und lasen die Maschine geschriebenen Worte - eine dürre
Bekanntmachung, dass über hundert führende deutsche Sozialisten hingerichtet worden seien wegen ihrer Bestrebungen, die Mobilisierung zu verhindern. Sie standen und starrten, bis Leute, die von hinten schoben, sie abdrängten. Dann standen sie außerhalb der Menge; der Kandidat starrte ins Leere, und Jimmie starrte auf den Kandidaten, beide stumm. Tatsächlich hätten sie auch nicht verstörter sein können, wenn die Meldung sich auf Mitglieder der Ortsgruppe Leesville der Sozialistischen Partei Amerikas bezogen hätte.
Der Schmerz war dem Kandidaten so deutlich vom Gesicht abzulesen, dass Jimmie sich den Kopf zerbrach, was er ihm Tröstliches sagen konnte. „Wenigstens haben sie getan, was sie konnten", flüsterte er.
Der andere brach plötzlich los: „Sie sind Helden! Sie haben den Namen Sozialist für immer geheiligt!" Er donnerte weiter, als ob er eine Rede hielte - so stark wird eine lebenslange Gewohnheit. „Sie haben ihre Namen zuoberst auf die Ehrentafel der Menschheit geschrieben! Gleichgültig, was danach geschieht, Genosse - die Bewegung hat sich behauptet. Wegen dieser Begebenheit wird sich die ganze Zukunft ändern!"
Er begann die Straße hinunterzugehen und redete dabei mehr zu sich als zu Jimmie. Er wurde von den Schwingen seiner Vision davongetragen, und sein Begleiter war so gepackt, dass er ernstlich nicht wusste, wo er war. Hinterher, in der Erinnerung, blieb diese Episode das wunderbarste Ereignis seines Lebens; er erzählte die Geschichte früher oder später jedem Sozialisten, dem er begegnete. Unvermittelt blieb der Kandidat stehen. „Genosse", sagte er, „ich muss zurück ins Hotel. Ich möchte ein paar Telegramme schreiben. Erkläre du das bitte dem Komitee - ich möchte lieber niemand sehen, bis es Zeit ist für die Versammlung. Den Weg finde ich alleine."

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