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Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
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ERSTER TEIL

Alles in Ostrowski ist Flamme der Aktion und des Kampfes - und diese Flamme wuchs und dehnte sich aus, je enger Nacht und Tod ihn umringten. Er strömte von unermüdlichem Lebensmut und Optimismus über. Und diese Freude verband ihn mit allen kämpfenden und vorwärts schreitenden Völkern der Erde.
ROMAIN ROLLAND

ERSTES KAPITEL

»Wer von euch war vor den Feiertagen bei mir zu Hause, seine Aufgaben herzusagen? Der soll aufstehen!«
Der schwammige Mann im Priesterrock, mit dem schweren Kreuz am Hals, blickte drohend auf die Schüler.
Seine bösen Äuglein durchbohrten geradezu die sechs Kinder, die sich von den Bänken erhoben hatten - es waren vier Jungen und zwei Mädchen. Ängstlich schauten sie zu ihm empor. »Ihr könnt euch setzen«, bedeutete der Pope den Mädchen.
Mit einem Seufzer der Erleichterung setzten sie sich rasch.
Die Äuglein Vater Wassilis blieben jetzt an den übrigen vier kleinen Gestalten haften.
»Na, kommt mal her, meine Täubchen!«
Vater Wassili erhob sich, schob den Stuhl zurück und trat dicht an die sich eng aneinanderdrängenden Kinder heran. »Wer von euch Taugenichtsen raucht?«
Leise erwiderten alle vier: »Wir rauchen nicht, Väterchen.«
Das feiste Gesicht des Popen lief dunkelrot an. »Ihr Halunken raucht nicht -und wer hat mir Machorka in den Teig gestreut? Ihr raucht nicht? Na, das werden wir ja gleich sehen. Kehrt die Taschen um! Na, wird's bald? Was habe ich gesagt? Die Taschen heraus!«
Drei der Kinder begannen sogleich den Inhalt ihrer Taschen auf den Tisch auszuschütten.
Sorgfältig prüfte der Pope die Taschennähte. Er spähte nach Tabakspuren, doch er fand nichts. Darauf knöpfte er sich den vierten vor, einen schwarzäugigen Jungen in grauem Hemd und blauer Hose, die an den Knien geflickt war.
»Und du, was stehst du wie ein Ölgötze da?«
Der schwarzäugige Junge sah ihn hasserfüllt an und antwortete dumpf:
»Ich habe keine Taschen!« Er strich mit den Händen über die zugenähten Stellen.
»Ach so, keine Taschen! Du meinst also, ich wüsste nicht, wer zu so einer Gemeinheit fähig ist - den Teig zu verderben? Du meinst wohl, dass man dich auch jetzt noch in der Schule lassen wird? Nein, mein Täubchen, das wird dir nicht geschenkt! Das letzte Mal hat mich nur deine Mutter durch Bitten bewogen, es noch einmal zu versuchen; aber jetzt ist Schluss! Mach, dass du rauskommst!« Er packte den Jungen derb am Ohr, stieß ihn in den Gang hinaus und warf die Tür hinter ihm zu.
Die Klasse schwieg und duckte sich scheu. Niemand begriff, weshalb Pawel Kortschagin aus der Schule gejagt wurde. Nur Serjosha Brusshak, Pawels bester Freund, hatte gesehen, wie Pawel dem Popen eine Handvoll Machorka in den Osterteig gestreut hatte, dort in der Küche, wo die sechs Schüler auf den Popen warteten. Sie waren in seine Wohnung gekommen, um ihre Aufgaben nachträglich herzusagen.
Pawel hockte sich draußen auf die letzte Stufe der Vortreppe nieder. Er überlegte, was er zu Hause der Mutter sagen sollte, seiner Mutter, die immer so besorgt war und die sich vom frühen Morgen bis spät in die Nacht als Köchin beim Steuerinspektor abrackerte.
Pawel würgten die Tränen.
Was soll ich jetzt bloß machen? Und alles wegen dieses verdammten Popen. Warum, zum Kuckuck, habe ich ihm nur das Zeug hineingestreut? Serjosha ist ja der Anstifter gewesen. »Los«, hat er gesagt, »streuen wir diesem Ekel Machorka in den Teig!« Und da haben wir es gleich so gemacht. Serjosha -dem passiert nichts, aber mich wird man sicher rausschmeißen …
Die Feindschaft zwischen Pawel und Vater Wassili war schon alten Datums. Pawel hatte sich eines Tages mit Mischa Lewtschukow gerauft und musste deshalb nachsitzen. Damit er jedoch im leeren Klassenzimmer keine Dummheiten machte, brachte ihn der Lehrer zu den älteren Schülern in die zweite Klasse. Pawel setzte sich auf die letzte Bank.
Der Lehrer, ein dürres Männlein in schwarzem Rock, erzählte von der Erde und den Gestirnen. Pawel vernahm staunend, mit weit offenem Mund, dass die Erde schon seit vielen Millionen Jahren existierte und dass die Sterne auch so etwas Ähnliches wie die Erde seien. Er war von dem Gehörten derart überrascht, dass er sogar aufstehen und dem Lehrer sagen wollte: In der Bibel steht es aber ganz anders. Er fürchtete jedoch, dass es wieder etwas setzen könnte.
In Religion hatte Pawel vom Popen immer gute Noten bekommen. Alle Choräle, das Neue und das Alte Testament konnte er im Schlafe hersagen. Er wusste genau, was Gott an welchem Tage erschaffen hatte. Pawel beschloss also, sich bei Vater Wassili nach allem zu erkundigen. Gleich in der nächsten Religionsstunde, sobald sich der Pope in seinem Lehnstuhl niedergelassen hatte, meldete sich Pawel, erhielt auch die Erlaubnis zu sprechen und stand auf: »Väterchen, warum sagt der Lehrer in der oberen Klasse, dass die Erde schon Millionen Jahre existiert, und nicht … fünftausend, wie es in der Bibel steht?« Weiter kam er nicht. Vater Wassilis wütendes Gekreisch unterbrach ihn:
»Was sprichst du da, du Halunke? So also lernst du das Wort des Herrn!«
Ehe Pawel sich's versah, hatte ihn der Pope bei den Ohren gepackt und schlug ihn mit dem Kopf gegen die Wand. In der nächsten Minute flog er, verprügelt und erschrocken, auf den Gang hinaus.
Auch bei der Mutter kam Pawel übel an.
Am nächsten Tag ging sie in die Schule und bat Vater Wassili, ihren Sohn wieder aufzunehmen. Von diesem Zeitpunkt an hasste Pawel den Popen aus tiefster Seele. Er hasste und fürchtete ihn zugleich. Er verzieh niemals Kränkungen, die ihm zugefügt wurden; auch dem Popen vergaß er die unverdiente Prügel nicht. Er trug den Groll heimlich in sich.
Der Junge hatte noch vielerlei Schikanen von Vater Wassili zu ertragen: bald jagte ihn der Pope aus dem Zimmer, bald stellte er ihn wochenlang für nichts und wieder nichts in die Ecke und hörte niemals seine Aufgaben ab. Deshalb musste er auch vor Ostern mit den zurückgebliebenen Schülern in die Wohnung des Popen gehen, um sich prüfen zu lassen. Dort, in der Küche, hatte er ihm Machorka in den Osterteig gestreut.
Niemand hatte es gesehen, und trotzdem hatte der Pope sofort erraten, wessen Werk das gewesen war …..
Die Stunde war zu Ende, die Kinder liefen auf den Hof hinaus und umringten Pawel, der düster schwieg. Serjosha Brusshak war in der Klasse geblieben. Er fühlte sich mitschuldig, konnte aber dem Freund nicht helfen.
Aus dem offenen Fenster des Lehrerzimmers beugte sich Jefrem Wassiljewitsch, der Schuldirektor. Sein tiefer Bass ließ Pawel erzittern. »Kortschagin soll sofort zu mir kommen!« rief er.
Klopfenden Herzens ging Pawel ins Lehrerzimmer.
Der Besitzer der Bahnhofswirtschaft, ein älterer, blasser Mann mit ausdruckslosen Augen, streifte den etwas abseits stehenden Pawel mit einem flüchtigen Blick. »Wie alt ist er denn?«
»Zwölf«, antwortete die Mutter.
»Na schön, mag er dableiben. Die Bedingungen sind: acht Rubel monatlich und Essen an den Arbeitstagen. Vierundzwanzig Stunden Dienst, vierundzwanzig Stunden frei, und dass er sich nicht untersteht zu stehlen.«
»Wo denken Sie hin! Gott bewahre! Stehlen wird er nicht, dafür bürge ich«, sagte die Mutter erschrocken.
»Na, dann soll er gleich heute anfangen«, befahl der Wirt und wandte sich an die Kellnerin, die neben ihm hinter der Theke stand: »Sina, führ den Jungen in den Abwaschraum und sag Frossja, sie soll ihn an Stelle von Grischka beschäftigen.«
Die Kellnerin legte das Messer weg, mit dem sie gerade Schinken geschnitten hatte, nickte Pawel zu und ging durch den Saal zu einer Seitentür, die in den Spülraum führte. Pawel folgte ihr. Die Mutter ging neben ihm her und flüsterte ihm hastig zu:
»Gib dir ordentlich Mühe, Pawluschka, und mach mir keine Schande.«
Sie sah dem Sohn traurig nach und ging dann davon.
Im Spülraum herrschte Hochbetrieb. Ein Berg Teller, Gabeln, Messer türmten sich auf dem Tisch, und mehrere Frauen trockneten das Geschirr mit Küchenhandtüchern ab, die ihnen über die Schultern hingen.
Ein rothaariger Junge, mit zerzaustem, ungekämmtem Haar, kaum älter als Pawel, hantierte an zwei riesigen Samowaren. Der Raum, in dem eine große Spülschüssel mit heißem Wasser stand, war voller Dampf. Pawel vermochte anfangs die Gesichter der arbeitenden Frauen nicht zu unterscheiden. Er stand da und wusste weder, was er zu tun hatte, noch an wen er sich wenden sollte.
Die Kellnerin Sina trat an eine der Frauen heran, fasste sie an der Schulter und sagte:
»Hier, Frossja, hast du einen neuen Jungen, er soll an Stelle von Grischka arbeiten. Erklär ihm alles, was er zu tun hat.«
Zu Pawel gewandt, deutete Sina auf die Frau, die sie soeben Frossja genannt hatte, und erklärte ihm:
»Sie ist hier die Oberste. Was sie anordnet, musst du tun.« Dann drehte sie sich um und ging zur Theke zurück.
»Schön«, sagte Pawel leise und blickte die vor ihm stehende Frossja fragend an. Diese wischte sich den Schweiß von der Stirn, musterte den Jungen von oben bis unten, als wollte sie ihn abschätzen, krempelte den vom Ellbogen heruntergerutschten Ärmel auf und sagte mit ungewöhnlich angenehm klingender Stimme:
»Na, was ist da schon viel zu erklären, mein Kleiner. Du musst also frühmorgens unter diesem Kessel Feuer machen und dafür sorgen, dass immer kochendes Wasser drin ist. Holz musst du natürlich hacken, und auch die Samoware gehören zu deiner Arbeit. Dann wirst du, .wenn's nötig ist, Messer und Gabeln putzen und das Abwaschwasser hinaustragen. An Arbeit fehlt's nicht, Kleiner, wirst schon schwitzen«, sagte sie in ihrer Kostromaer Mundart mit der Betonung des »a«. Von dieser Mundart und dem frischen Gesicht mit der kleinen Stupsnase wurde es dem Jungen leichter ums Herz.
Das ist offenbar eine ganz nette Tante, entschied er im stillen und wandte sich schon mutiger an Frossja:
»Und was soll ich jetzt tun, Tantchen?«
Sprach's und stockte. Das laute Gelächter der in der Spülküche beschäftigten Frauen verschlang seine letzten Worte.
»Hahaha …! Frossja hat plötzlich einen Neffen gekriegt…«
»Haha!« lachte Frossja noch herzhafter als alle anderen.
In dem Dunst hatte Pawel ihr Gesicht nicht recht sehen können; Frossja war erst achtzehn Jahre alt.
Ganz und gar verwirrt wandte sich Pawel nun an den Jungen und fragte: »Was soll ich jetzt tun?«
Aber der Junge beantwortete die Frage nur mit einem Gekicher. »Frag doch die Tante, die wird dir schon alles erklären, ich arbeite hier nur aushilfsweise.« Er wandte sich um und sprang zur Tür hinaus, die in die Küche führte.
»Komm her, hilf die Gabeln abtrocknen«, hörte Pawel eine ältere Geschirrwäscherin sagen.
»Was johlt ihr da? Was hat der Junge schon Besonderes gesagt? Da, greif zu«, sagte sie und hielt Pawel ein Handtuch hin. »Nimm das eine Ende zwischen die Zähne, und das andere zieh straff an. Putz die Gabeln gründlich zwischen den Zinken, damit ja kein Stäubchen mehr dranbleibt. Bei uns wird darauf streng geachtet. Die Herrschaften sehen sich die Gabeln genau an, und wenn sie Schmutz bemerken, ist's schlimm, dann jagt einen die Wirtin im Nu davon.«
»Wieso die Wirtin?« Pawel stutzte. »Ihr habt doch einen Wirt. Er hat mich ja eingestellt.«
Die Frau lachte.
»Der Wirt, mein Söhnchen, ist bei uns nur so was wie ein Möbelstück, ein Pantoffelheld ist er. Die Zügel hat hier die Wirtin in der Hand. Heute ist sie nicht da. Wenn du eine Weile bei uns bist, wirst du's schon merken.«
Die Tür des Spülraums wurde aufgestoßen, und drei Kellner brachten Stöße schmutzigen Geschirrs herein.
Einer von ihnen, ein breitschultriger, schieläugiger Bursche mit einem derben, viereckigen Gesicht, sagte:
»Sputet euch mal etwas, aber fix! Gleich kommt der Zwölfuhrzug, und ihr vertrödelt hier die Zeit.«
Er sah Pawel an und fragte:
»Was ist denn das für einer?«
»Ein Neuer«, antwortete Frossja.
»Aha, ein Neuer«, sagte er und ließ seine schwere Hand auf Pawels Schulter fallen, wobei er ihn zu den Samowaren hinstieß. »Schau her, die müssen immer fertig sein, aber der eine, siehst du, ist ganz ausgegangen, und auch der andere dampft kaum. Heute wollen wir noch mal ein Auge zudrücken, aber wenn das morgen wieder passiert, kriegst du eine gelangt. Verstanden?«
Pawel machte sich, ohne ein Wort zu erwidern, an den Samowaren zu schaffen.
Und so begann Pawels Werktätigendasein. Noch nie hatte er sich so angestrengt wie an diesem ersten Arbeitstag. Er hatte begriffen, dass es hier nicht wie zu Hause war, wo er der Mutter nicht immer folgte. Der Schieläugige hatte ja klar und deutlich gesagt: Gehorchst du nicht, so bekommst du eine gelangt.
Die Funken sprühten nur so unter den dickbäuchigen, vier Eimer Wasser fassenden Samowaren, als Pawel die Glut anfachte. Er rannte mit den vollen Eimern zur Abfallgrube, heizte den Wasserkessel, trocknete die nassen Handtücher über den heißen Samowaren, kurz, er tat alles, was ihm befohlen wurde. Todmüde ging er spät am Abend hinunter in die Küche. Die ältliche Geschirrwäscherin Anissja sagte mit einem Blick auf die Tür, hinter der Pawel verschwunden war:
»Der Junge ist wohl nicht richtig im Kopf; der schuftet ja wie ein Verrückter. Der hat's wohl nötig!«
»Er ist ein tüchtiger Bursche«, meinte Frossja, »so einen braucht man nicht anzutreiben.«
»Der wird sich die Hacken bald ablaufen«, entgegnete Luscha. »Anfangs sind sie alle eifrig.«
Um sieben Uhr morgens übergab Pawel, von der schlaflosen Nacht und der endlosen Rennerei völlig erschöpft, die kochenden Samoware seiner Ablösung, einem blonden, pausbäckigen Kerl.
Nachdem sich der Junge davon überzeugt hatte, dass alles in Ordnung war und das Wasser in den Samowaren kochte, steckte er die Hände in die Hosentaschen, spuckte durch die Zähne, blickte Pawel mit seinen wässrigen Augen verächtlich von oben herab an und erklärte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete:
»He, du Schlafmütze! Komm morgen pünktlich um sechs Uhr zur Ablösung.«
»Warum um sechs?« fragte Pawel. »Schichtwechsel ist doch um sieben Uhr.«
»Mag der Schichtwechsel sein, wann er will, aber du hast um sechs Uhr hier zu sein! Und wenn du noch lange quasselst, werde ich dir mal einen Stempel in die Visage drücken. So 'ne Null - hat kaum angefangen zu arbeiten und will sich schon mausig machen!«
Die Geschirrwäscherinnen, die ihre Arbeit der Ablösung übergeben hatten, verfolgten interessiert das Gespräch der beiden Jungen. Der freche Ton und das herausfordernde Benehmen des anderen brachten Pawel auf. Er ging einen Schritt auf seinen Arbeitskollegen zu und schickte sich an, dem Jungen einen gehörigen Denkzettel zu versetzen; jedoch die Furcht, gleich am ersten Tage von der Arbeitsstelle gejagt zu werden, ließ ihn einhalten. Ganz rot vor Zorn sagte er:
»Ein bisschen sachte, tu dich nicht so dicke, sonst könnte es was setzen. Ich komme morgen um sieben Uhr, und raufen kann ich nicht schlechter als du. Wenn du's probieren willst - bitte sehr!«
Der Gegner trat einen Schritt zurück und schaute den erbosten Pawel erstaunt an. So einen entschiedenen Widerstand hatte er nicht erwartet. Er stutzte ein wenig.
»Na schön, wir werden schon sehen«, brummte er. Der erste Tag war glücklich vorüber; mit dem Gefühl eines Menschen, der sich seine Ruhe ehrlich verdient hat, stiefelte Pawel heim. Jetzt arbeitete auch er, und niemand wird ihm sagen können, dass er ein Schmarotzer ist.
Hinter dem Koloss des Sägewerkes stieg träge die Morgensonne empor. Bald wird auch Kortschagins Häuschen zu sehen sein. Da ist es, gleich hinter dem Herrenhaus der Leszczynskis.
Die Mutter ist sicher schon aufgestanden, und ich komme von der Arbeit zurück, dachte Pawel, begann zu pfeifen und beschleunigte seine Schritte. Gar nicht so übel, dass man mich aus der Schule hinausgeschmissen hat. Der verfluchte Pope hätte mir sowieso das Leben sauer gemacht, und jetzt spucke ich auf ihn, überlegte Pawel, während er sich zufrieden dem Haus näherte. Als er das Pförtchen öffnete, ging ihm der Gedanke durch den Kopf: Dem Semmelblonden werde ich bestimmt noch ein paar in die Fresse hauen, ganz bestimmt.
Die Mutter war im Hof mit dem Samowar beschäftigt. Als sie den Sohn erblickte, fragte sie besorgt: »Na, wie ist's gegangen?«
»Ganz gut«, erwiderte Pawel.
Die Mutter wollte ihm irgend etwas mitteilen, aber Pawel hatte bereits gesehen, was los war; durch das offene Fenster bemerkte er den breiten Rücken seines Bruders Artjom.
»Was, Artjom ist gekommen?« fragte er bestürzt.
»Ja, gestern, und er will hier bleiben. Er wird im Depot arbeiten.« Etwas unsicher öffnete Pawel die Zimmertür.
Die riesige Gestalt, die mit dem Rücken zu ihm am Tisch saß, wandte sich um, und unter dichten schwarzen Brauen blickten Pawel die strengen Augen seines Bruders an.
»Aha, da ist er, unser Machorkamann. Na also, guten Tag!«
Die Worte des heimgekehrten Bruders ließen Pawel nichts Gutes erwarten.
Artjom weiß schon alles, dachte Pawel. Er wird mich sicher ausschimpfen oder sogar verprügeln.
Pawel hatte Angst vor seinem großen Bruder.
Artjom aber hatte offenbar nicht die Absicht, ihn zu verprügeln. Er saß auf einem Schemel, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und schaute Pawel unverwandt an, halb spöttisch, halb verächtlich.
»Also du meinst, dass du die Universität schon hinter dir hast und alle Wissenschaften aus dem Effeff kennst; da hast du dich also ans Geschirrabwaschen gemacht?« sagte Artjom.
Pawel hatte den Blick auf ein lockeres Dielenbrett geheftet und studierte aufmerksam einen daraus hervorragenden Nagel. Artjom aber stand auf und ging in die Küche.
Diesmal schien es wohl noch ohne Abreibung abzugehen. Pawel seufzte erleichtert auf.
Beim Teetrinken fragte Artjom den Bruder ruhig über den Vorfall in der Klasse aus.
Pawel legte los.
»Und was soll weiter aus dir werden, wenn du so ein Strolch bleibst?« fragte die Mutter bekümmert. »Was fangen wir nur mit ihm an? Nach wem ist er so geraten? Ach, du lieber Gott, was habe ich nur mit diesem Jungen auszustehen!«
Artjom schob die leere Tasse beiseite und wandte sich an Pawel:
»Na also, Brüderchen, wenn's schon mal so weit gekommen ist, können wir's nicht mehr ändern. Aber nimm dich von nun an in acht, mach auf der Arbeit keine Faxen und tu alles, wie sich's gehört. Schmeißt man dich dort auch raus, versohl ich dich so, dass du dein Lebtag dran denken wirst. Merk dir das! Hör jetzt auf, der Mutter Kummer zu machen. Wo du nur hinkommst, gibt es Unannehmlichkeiten, überall stellst du was an. Aber jetzt Schluss damit! Wenn du dort ein Jährchen gearbeitet hast, werde ich darum bitten, dass man dich im Depot als Lehrling einstellt, denn beim Geschirrabwaschen wird ja doch nichts Rechtes aus dir werden. Musst ein Handwerk erlernen. Jetzt bist du noch zu klein, aber in einem Jahr werd ich mal anfragen - vielleicht nimmt man dich dann. Ich hab mich hierher versetzen lassen und werde hier arbeiten. Mutter wird sich nicht mehr bei fremden Leuten abrackern müssen. Hat genug vor dem Pack den Buckel krumm gemacht. Du aber sei vernünftig, Pawka, und benimm dich wie ein anständiger Mensch.«
Er erhob sich zu seiner ganzen ungeheuren Größe, zog den über der Stuhllehne hängenden Rock an und rief der Mutter zu:
»Ich geh auf ein Stündchen weg, muss noch was erledigen.« Damit ging er hinaus, wobei er sich im Türrahmen bücken musste. Als er am Fenster vorüberkam, rief er von draußen herein:
»Ich hab dir da Stiefel und ein Taschenmesser mitgebracht, lass dir's von Mutter geben.«

Die Bahnhofswirtschaft war Tag und Nacht ununterbrochen geöffnet.
Auf dem Eisenbahnknotenpunkt Schepetowka kreuzten sich sechs Linien. Bis auf zwei, drei Stunden in der Nacht, wo der Verkehr ein wenig abflaute, war der Bahnhof immer voller Menschen. Hunderte von Truppentransporten begegneten sich hier und brausten dann wieder in verschiedenen Richtungen davon. Von der Front wieder zur Front. Verstümmelte, zerschundene Menschen trafen ein - und Männer in einförmigen grauen Soldatenmänteln fuhren ab.
Zwei Jahre war Pawel bereits auf dieser Arbeitsstelle. Küche und Spülraum -das war alles, was er in dieser Zeit zu Gesicht bekommen hatte. In der riesigen Küche unten im Keller wurde fieberhaft gearbeitet. Über zwanzig Menschen waren dort beschäftigt. Zehn Kellner liefen zwischen Theke und Küche hin und her.
Pawel verdiente nicht mehr acht, sondern zehn Rubel monatlich. Er war in den vergangenen zwei Jahren gewachsen und kräftiger geworden. Viel Plackerei hatte er in der letzten Zeit gehabt. Ein halbes Jahr war er als Küchenjunge tätig gewesen und dann wieder in den Spülraum abgeschoben worden. Er hatte dem allmächtigen Chef missfallen, dieser widerspenstige Junge, von dem man jeden Moment erwarten konnte, dass er einem wegen einer Backpfeife mit dem Messer an die Kehle fahren würde. Er wäre längst weggejagt worden, aber sein unverwüstlicher Arbeitseifer rettete ihn immer wieder. Arbeiten konnte Pawel mehr als alle anderen, darin war er unermüdlich.
In den Stunden, in denen es besonders heiß herging, rannte er wie ein Besessener, das Tablett in der Hand, vier, fünf Stufen auf einmal nehmend, in die Küche hinunter und wieder zurück.
Nachts, wenn der Andrang in beiden Sälen der Wirtschaft nachgelassen hatte, versammelten sich die Kellner unten in den Vorratskammern neben der Küche. Hier ging es bei Siebzehn und vier und anderen Glücksspielen hoch her. Pawel hatte mehr als einmal Geld haufenweise auf dem Tisch liegen sehen. Er wunderte sich nicht über das viele Geld, wusste er doch, dass jeder Kellner während seines vierundzwanzigstündigen Dienstes an die dreißig bis vierzig Rubel Trinkgeld einsteckte. Fünfzigkopekenweise, rubelweise sammelten sie das Geld ein und vertranken und verspielten es dann. Pawel verabscheute sie aus ganzem Herzen.
Diese verfluchten Hunde, dachte er. Artjom ist einer der besten Schlosser im Betrieb und verdient nur achtundvierzig Rubel, und ich zehn. Und die stecken soviel Geld an einem Tag ein. Wofür eigentlich? Tragen auf und räumen weg. Und nachher versaufen und verspielen sie alles. Diese Schufte laufen hier als Lakaien umher. Aber ihre Frauen und Söhnchen leben in den Städten wie die Herrschaften.
Die Kellner brachten zuweilen ihre in Gymnasiastenuniform gekleideten Söhne und ihre vor lauter Wohlleben immer fetter werdenden Frauen mit. Die haben sicher mehr Geld als die Herren, um die sie herumtanzen, dachte Pawel.
Er wunderte sich auch nicht über das, was nachts in den Winkeln der Küche und in den Lagerräumen vor sich ging. Er wusste sehr gut, dass kein Küchenmädchen, keine Kellnerin lange auf ihrer Arbeitsstelle bleiben konnte, wenn sie sich nicht jedem, der hier ein Wort zu sagen hatte, für ein paar Rubel verkaufte.
Begierig nach allem Neuen und Unbekannten, lernte Pawel hier die Abgründe des Lebens kennen und in ihre morastigen Tiefen schauen, aus denen ihn Moder und Fäulnis anwehten.
Artjom war es nicht gelungen, den Bruder als Lehrling beim Depot unterzubringen: Jugendliche unter fünfzehn Jahren wurden nicht eingestellt.
Pawel erwartete sehnlichst den Tag, an dem er von hier weggehen könnte. Es zog ihn nach dem riesigen, verrußten Steingebäude, oft war er dort bei Artjom, kontrollierte mit ihm die Waggons und war bemüht, ihm behilflich zu sein.
Besonders öde wurde es, als Frossja die Stelle verlassen hatte.
Das lachende, fröhliche Mädchen fehlte Pawel, und er fühlte mehr denn je, wie sehr er an ihr gehangen hatte. Wenn er morgens den Spülraum betrat und das zänkische Geschrei der Frauen vernahm, empfand er Leere und Einsamkeit.

Während einer nächtlichen Pause hockte Pawel beim Heizen des Wasserkessels vor dem geöffneten Ofentürchen, kniff die Augen zusammen und schaute blinzelnd ins Feuer. Der Ofen verbreitete eine wohltuende Wärme. Pawel war ganz allein im Spülraum, und unwillkürlich kehrten seine Gedanken zu dem zurück, was er vor kurzem erlebt hatte, zu Frossja. Noch heute stand alles deutlich vor seinen Augen.
Es war an einem Sonnabend gewesen. Pawel war während der nächtlichen Pause die Treppe hinunter in die Küche gegangen. Im Treppenwinkel war er aus Neugier auf den dort gelagerten Holzstapel geklettert, um in den Lagerraum hineinzuschauen, in dem sich die Kartenspieler zu versammeln pflegten. Das Spiel war dort in vollem Gange. Die Bank hielt Saliwanow, der vor Aufregung dunkel angelaufen war.
Plötzlich hörte Pawel Schritte auf der Treppe. Der Junge wandte sich um: Prochoschka kam herunter. Pawel kroch unter die Treppe, um abzuwarten, bis der andere in die Küche gehen würde. Unter der Treppe war es dunkel, so dass Prochoschka ihn nicht sehen konnte. Pawel jedoch konnte seinen breiten Rücken und seinen großen Kopf erkennen.
Behänden, leichten Schrittes eilte noch jemand die Treppe herunter, und Pawel vernahm eine bekannte Stimme:
»Prochoschka, warte einen Augenblick!«
Prochoschka blieb stehen, drehte sich um und schaute hinauf.
»Was gibt's?« brummte er.
Die Schritte auf der Treppe kamen näher, und Pawel erkannte Frossja.
Sie packte den Kellner am Ärmel und sagte mit stockender, gepresster Stimme:
»Prochoschka, wo ist denn das Geld, das dir der Leutnant gegeben hat?«
Prochor riss sich heftig los.
»Was für Geld? Hast du vielleicht keins von mir gekriegt?« versetzte er gereizt und scharf.
»Aber er hat dir doch dreihundert Rubel gegeben.« Frossja unterdrückte krampfhaft ein Schluchzen.
»Dreihundert Rubel, sagst du?« erwiderte Prochoschka giftig.
»Und du willst sie also haben? Sind Sie vielleicht nicht gar zu teuer, gnädiges Fräulein aus der Spülküche? Ich denke, die fünfzig Rubel, die ich dir gegeben habe, genügen auch. Was denkst du dir eigentlich? Es gibt nettere Fräuleins, gebildetere, und selbst die nehmen nicht einmal soviel Geld. Sollst dich lieber schön bedanken - für eine Nacht volle fünfzig Rubel. Bin doch nicht auf den Kopf gefallen. Einen Zehner oder zwei werde ich dir noch geben, aber damit basta! Und wenn du dich nicht blöd anstellst, wirst du noch genug verdienen. Ich werde dir schon wieder was verschaffen.« Mit diesen Worten drehte sich Prochoschka um und verschwand in der Küche.
»Schuft, du niederträchtiger!« schrie ihm Frossja nach und begann, an den Holzstapel gelehnt, dumpf zu schluchzen.
Es lässt sich nur schwer schildern, was Pawel, im Dunkeln unter der Treppe hockend empfand, als er dieses Gespräch hörte und sah, wie Frossja, die am ganzen Körper bebte, den Kopf auf den Holzstapel fallen ließ. Pawel machte sich nicht bemerkbar. Krampfhaft hielt er das eiserne Treppengeländer umklammert, und in seinem Kopf hämmerte es klar und deutlich: Auch die haben sie also verschachert, dies verfluchte Gesindel. Ach, Frossja, Frossja …!
So wurde sein Hass gegen Prochoschka noch tiefer und heftiger, seine gesamte Umgebung wurde ihm noch widerwärtiger und verhasster. Ja, wenn ich stark genug wäre, ich würde diesen Schuft zu Tode prügeln! Warum bin ich nicht so groß und stark wie Artjom?
Die Flammen im Ofen flackerten auf und verlöschten, ihre roten Zungen bebten und verflochten sich zu einer langen bläulichen Spirale. Pawel schien es, als mache sich jemand über ihn lustig und streckte ihm höhnisch die Zunge heraus.
Im Raum war es still, nur das Holz knisterte, und vom Wasserhahn her war das Geräusch gleichmäßig fallender Tropfen zu hören.
Klimka stellte den letzten blankgeputzten Kochtopf auf das Wandbrett und trocknete sich die Hände ab. Die Küche war leer. Der diensttuende Koch und die Küchenmädchen schliefen in der Garderobe. Nachts herrschte in der Küche immer drei Stunden lang Ruhe, und diese Stunden verbrachte Klimka stets oben bei Pawel. Der Küchenjunge und der schwarzäugige Bursche vom Wasserkessel hatten sich gut angefreundet. Als Klimka heraufkam, sah er Pawel vor dem offenen Ofen kauern. Pawka bemerkte den Schatten der wohlbekannten wuschelköpfigen Gestalt an der Wand und sagte, ohne sich umzuschauen :
»Setz dich, Klimka.«
Der Küchenjunge kletterte auf die aufgestapelten Holzscheite, streckte sich auf ihnen aus, blickte den stumm zusammengekauerten Pawel an und sagte lächelnd:
»Was machst du denn da, zauberst wohl vor dem Feuer?«
Pawel riss nur mühsam den Blick von den Flammenzungen los. Ein Paar große, glänzende Augen richteten sich auf Klimka. In diesen Augen las Klimka unsagbaren Kummer. Zum ersten Mal sah er in den Augen seines Freundes eine solche Traurigkeit.
»Du bist heute so komisch, Pawka«, sagte er verwundert, und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu:
»Ist etwas passiert?« Pawel stand auf und setzte sich neben Klimka.
»Gar nichts ist passiert«, erwiderte er mit dumpfer Stimme.
»Aber es fällt mir schwer, hier auszuhalten, Klimka.« Seine auf den Knien ruhenden Hände ballten sich zu Fäusten.
»Was ist heute mit dir los?« fragte Klimka wieder und stützte sich auf den Ellbogen.
»Heute, sagst du? Immer schon war das gleiche los, seitdem ich hier bin. Schau nur, was sich hier tut! Wir schuften wie die Viecher, und zum Dank haut dir jeder, der Lust dazu hat, eine runter, und niemand steht dir bei. Die Wirtsleute haben uns angestellt, damit wir für sie arbeiten, aber uns prügeln, das darf jeder, der nur kräftig genug dazu ist. Du kannst dich in Stücke reißen, aber allen kannst du's doch nicht recht machen, und wem du's eben nicht recht machst, der langt dir eine. Man gibt sich doch schon solche Mühe, um alles zu machen, wie sich's gehört, damit keiner etwas auszusetzen hat; man rast hin und her, und doch, hat man mal jemandem etwas nicht rechtzeitig gebracht - gleich kriegst du eins ins Genick …« Klimka unterbrach ihn erschrocken:
»Schrei doch nicht so, sonst kommt noch jemand und hört's.«
Pawel sprang auf.
»Sollen sie's doch hören. Ich geh sowieso weg von hier. Selbst Schneeschippen an der Bahnlinie ist noch besser, als hier zu arbeiten … hier geht man zugrunde, hier sind alle durch die Bank Gauner. Wie viel Geld die haben! Und uns behandeln sie wie die Tiere. Mit den Mädchen machen sie, was sie wollen. Gibt ein anständiges Mädchen nicht nach, so wird sie eins-zwei-drei rausgeschmissen. Und wo soll sie hin? Obdachlose, Flüchtlinge, Hungernde werden angestellt. Die bleiben schon wegen des Brotes. Hier haben sie doch wenigstens was zu essen, und vor Hunger gehen sie auf alles ein!«
Er sprach mit einer derartigen Erbitterung, dass Klimka aus Angst, jemand könnte ihr Gespräch mit anhören, plötzlich aufsprang und die zur Küche führende Tür verschloss, aber Pawel machte seinem Herzen noch weiter Luft.
»Ja, du, Klimka, du hältst immer den Mund, wenn man dich prügelt. Warum eigentlich?«
Pawel ließ sich auf einen Schemel fallen und stützte müde den Kopf in die Hand. Klimka schob Holz in den Ofen und setzte sich dann zu ihm.
»Wollen wir heute nicht lesen?« fragte er Pawel.
»Ich habe kein Buch«, antwortete dieser, »der Bücherstand ist geschlossen.«
»Wieso verkauft er denn heute nicht?« fragte Klimka verwundert.
»Die Gendarmen haben den Verkäufer geholt. Haben wohl irgend etwas bei ihm gefunden.«
»Was denn?«
»Man sagt, etwas mit Politik.«
Klimka schaute Pawel verständnislos an.
»Was bedeutet das - Politik?«
Pawka zuckte die Achseln.
»Weiß der Teufel! Man sagt, wenn jemand gegen den Zaren ist, dann heißt das Politik.«
Klimka fuhr erschrocken zusammen.
»Gibt's denn solche Leute?«
»Weiß nicht«, antwortete Pawel.
Die Tür ging auf, und die verschlafene Glascha trat ein.
»Warum schlaft ihr nicht, Jungs? Auf eine Stunde könnt ihr noch einnicken, bis die Züge ankommen. Geh, Pawka, ich werde auf den Kessel Acht geben.«

Pawel sollte seine Stelle schneller verlassen, als er es geahnt hatte, und auf ganz unerwartete Weise.
An einem frostigen Januartag hatte Pawel seine Schicht beendet und machte sich zum Heimgehen fertig; doch der Bursche, der ihn ablösen sollte, war nicht erschienen. Pawel ging zur Wirtin und erklärte ihr, er werde nach Hause gehen, aber sie ließ ihn nicht weg. Der todmüde Junge musste nun weitere vierundzwanzig Stunden schuften, und als die Nacht kam, war er völlig
erschöpft. In der Pause hatte er die Wasserkessel zu füllen, um bis zum Dreiuhrzug kochendes Wasser zu haben.
Pawel drehte den Hahn auf - aber es kam kein Wasser. Das Pumpwerk versagte offenbar. Er ließ den Hahn offen, streckte sich auf dem Holzstapel aus und schlief ein; die Müdigkeit hatte ihn übermannt.
Nach einigen Minuten schon gluckste und rauschte es im Hahn. Wasser strömte in den Kessel, füllte ihn bis an den Rand und floss über die Kacheln auf den Fußboden des Spülraums, in dem, wie gewöhnlich, niemand mehr war. Das Wasser rann und sickerte unter der Tür hindurch in den Wartesaal.
Wasserbäche rieselten unter das Gepäck und die Koffer der schlafenden Reisenden. Niemand merkte es, und erst als das Wasser einen auf dem Boden liegenden Fahrgast erreichte und dieser aufsprang und zu schreien begann, stürzte alles zum Gepäck.
Es entstand ein heilloses Durcheinander.
Das Wasser aber stieg und stieg.
Prochoschka, der einen Tisch im zweiten Saal abräumte, kam auf das Geschrei der Reisenden herbeigestürzt, sprang über die Pfützen zur Tür und riss sie gewaltsam auf. Das Wasser flutete nun in Strömen in den Saal.
Das Geschrei wurde lauter. Die diensttuenden Kellner eilten in den Spülraum. Prochoschka warf sich auf den schlafenden Pawel.
Ein Schlag nach dem andern hagelte auf den Kopf des vor Schmerz völlig benommenen Jungen nieder. In seiner Schlaftrunkenheit verstand er gar nicht, was los war. Grelle Blitze flackerten vor seinen Augen. Ein brennender Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper.
Ü bel zugerichtet, schleppte er sich mit Mühe und Not nach Hause.
Am Morgen befragte ihn Artjom mit finsterer, zorniger Miene über das Vorgefallene.
Pawel erzählte ihm, wie sich alles zugetragen hatte.
»Wer hat dich geschlagen?« fragte Artjom mit gepresster Stimme.
»Prochoschka.«
»Schön, kannst liegen bleiben.«
Artjom zog seinen Schafpelz an und verließ das Haus, ohne ein Wort zu sagen.

»Kann ich den Kellner Prochor sprechen?« erkundigte sich ein unbekannter Arbeiter bei Glascha.
»Er wird gleich hier sein, warten Sie einen Augenblick«, erwiderte sie. Die riesige Gestalt lehnte sich an den Türrahmen.
»Schön, ich werde warten.«
Das Tablett voller Geschirr in den Händen, stieß Prochor mit dem Fuß die Tür auf und trat ein.
»Das ist er«, sagte Glascha und wies auf Prochor.
Artjom schritt auf ihn zu, ließ seine Hand wuchtig auf die Schulter des Kellners fallen und fragte ihn unverblümt:
»Warum hast du meinen Bruder Pawka verprügelt?«
Prochor versuchte seine Schulter frei zu machen, aber ein furchtbarer Faustschlag warf ihn zu Boden. Er wollte aufstehen, aber ein zweiter, schrecklicher als der erste, nagelte ihn förmlich am Fußboden fest.
Die erschrockenen Frauen sprangen zur Seite.
Artjom drehte sich um und ging von dannen.
Mit blutig geschlagenem Gesicht wälzte sich Prochoschka auf dem Fußboden.
Abends kehrte Artjom nicht aus dem Depot zurück.
Die Mutter brachte in Erfahrung, dass man ihn in der Gendarmerie festhielt.
Am Abend des sechsten Tages kam Artjom nach Hause. Die Mutter schlief bereits. Er trat zu dem auf dem Bett sitzenden Pawel und fragte ihn freundlich:
»Geht's besser, Brüderchen?« und setzte sich neben ihn auf den Bettrand.
»Na, es gibt Schlimmeres.« Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Macht nichts, fängst jetzt im Elektrizitätswerk an. Ich habe dort schon von dir gesprochen. Dort wirst du wenigstens was Vernünftiges lernen.«
Pawel drückte mit beiden Händen heftig die riesige Hand des Bruders.

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